“Langfristig lassen sich einige Industriezweige nur mit Wasserstoff am Standort NRW halten”

01.01.2025

Interview mit Dr. Stefan Herrig, Leitung der Wasserstoffleitstelle H2.NRW bei NRW.Energy4Climate

Wo stehen wir aktuell beim Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft? Welche zentralen Meilensteine wurden bereits erreicht? 

Auch wenn die Stimmungslage dies aktuell nicht widerspiegelt, müssen wir uns vor Augen führen, was wir in den letzten Jahren in vergleichsweise kurzer Zeit alles geschafft haben: Noch 2019 haben wir im Zuge der Arbeitsplattform IN4climate.NRW die Einsatzmöglichkeiten für Wasserstoff in einer klimaneutralen Industrie theoretisch durchdacht, 2020 folgte auf Landesebene die Wasserstoff-Roadmap, 2024 wurde bereits das Kernnetz auf Bundesebene genehmigt, ein europaweit einzigartiger Schritt. Damit nicht genug: Erste großskalige Elektrolyseure in der Größenordnung zwischen zehn und 20 Megawatt befinden sich in NRW im Bau oder sind bereits in Betrieb – Projekte für Anlagen noch größerer Leistungsklasse sind zudem in Planung. Andere zentrale Bausteine für den Hochlauf, wie beispielsweise eine Serienproduktionsanlage für Elektrolyseure, erhalten entsprechende Förderungen. Und auch wichtige regulatorische Fragen sind bereits geklärt. Natürlich ist dabei nicht alles restlos zufriedenstellend, doch trotzdem: Die politischen Eckpfeiler und Rahmenbedingungen sind erfolgreich gesetzt.   

Wie muss es jetzt weitergehen? 

Der Transformationsdruck ist extrem hoch. Nun muss die Wirtschaft, unterstützt durch die Politik, es schaffen, passende Geschäftsmodelle und damit langfristig einen funktionierenden Markt für Wasserstoff, mit Wasserstoff produzierten Industrieprodukten und die notwendigen Technologien zu entwickeln. Nach einer Phase des Hypes, sehen wir derzeit eine Konsolidierung des Marktes. Wichtig ist nun, beim Tempo auf keinen Fall nachzulassen: Wasserstoff wird gebraucht und Wasserstoff wird auch kommen, daran habe ich keinen Zweifel. Um voranzukommen, müssen jetzt unter anderem schnellstmöglich nach der Planung für das Kernnetz auch die regionalen Anbindungen an dieses entwickelt werden, damit auch kleinere Unternehmen sicher davon profitieren. Auch muss – aller Hürden zum Trotz – die dezentrale Wasserstofferzeugung weiter vorangetrieben werden. Erste Projekte für lokale oder regionale Erzeugungs- und Abnehmerstrukturen laufen bereits an. Gleichzeitig müssen auch die passenden Randbedingungen sichergestellt bleiben, so ist zum Beispiel der weiterhin konsequente Ausbau Erneuerbarer Energien für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft essenziell. 

Wofür ist der Einsatz von grünem Wasserstoff kurz- und mittelfristig wirklich sinnvoll und wichtig – und wo eher nicht? 

Klar ist, die Nutzung von grünem Wasserstoff wird langfristig nicht überall wirtschaftlich sein, wo heute auf Erdgas gesetzt wird. Oft sind andere Maßnahmen sinnvoller, insbesondere die direkte Elektrifizierung. Existenziell ist der Wasserstoffeinsatz in der Industrie – hier lassen sich mit Wasserstoff bereits kurzfristig große Mengen an CO2-Emissionen vermeiden – von der Stahlindustrie über die Chemieindustrie und Raffinerien bis zu Betrieben zum Beispiel in der Glas-, Ziegel- oder Schmiedeindustrie, die sich schlecht elektrifizieren lassen. Sie können Wasserstoff nutzen, um Prozesswärme mit sehr hohen Temperaturen zu erzeugen. Sicher ist: Langfristig lassen sich einige Industriezweige nur mit Wasserstoff am Standort NRW halten. Auch als Treibstoff im schweren Güterverkehr, öffentlichen Nahverkehr oder der Binnenschifffahrt hat der Einsatz von grünem Wasserstoff durchaus seine Berechtigung. Ebenso in der Energiewirtschaft. Hier wird Wasserstoff perspektivisch sehr wichtig: Wasserstofffähige Gaskraftwerke können, in einem zukünftigen auf Erneuerbaren Energien basierenden Stromsystem die Spitzenlasten abdecken. Der schnelle Ausbau Erneuerbarer Energien zur Stromerzeugung schafft gleichzeitig Synergien für die Wasserstoffproduktion. Die dezentrale Elektrolyse kann dabei helfen, die Stromnetze zu entlasten und die Häufigkeit der Abregelung von EE-Anlagen zu reduzieren. Wasserstoff zukünftig großflächig zum Heizen der Wohnung zu nutzen, stufen wir dagegen als unwahrscheinlich und langfristig unwirtschaftlich ein. Das wird nur in ausgewählten Einzelfällen überhaupt denkbar oder sinnvoll sein. 

Kritiker sagen, der Einsatz von Wasserstoff sei wirtschaftlich zu schwer kalkulierbar, um eine echte Perspektive für die Industrie sein zu können. Dabei wird häufig auch die komplexe Regulatorik als Mitgrund genannt. Wie beurteilen Sie diese Kritik? 

Wir befinden uns in einer spannenden Phase des Wasserstoffhochlaufs. Während die energieintensive Grundstoffindustrie bereits sehr zeitnah große Mengen an grünem Wasserstoff benötigen wird, besteht bei deren Kundinnen und Kunden derzeit noch kaum eine erhöhte Zahlungsbereitschaft für grüne Premiumprodukte. Konzepte wie „Grüne Leitmärkte“, die Quoten für grüne Materialien in der Beschaffung zum Beispiel für öffentliche Bauvorhaben festlegen, können hier weitere wichtige Anreize für den Anschub des Markthochlaufs setzen.   
Es ist richtig, dass an vielen Stellen die Regulatorik aktuell die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit von Wasserstoff als Rohstoff und Energieträger sogar eher noch verstärkt. Bei allem Verständnis für die Frustration darüber, sehe ich aber auch als Erfolg, dass ein regulatorischer Rahmen überhaupt geschaffen ist. An der Optimierung wird derzeit vielfach noch gearbeitet. Land und Bund setzen sich zum Beispiel mit Praxischecks für eine Vereinfachung von Genehmigungsverfahren für Elektrolyseure ein, die Genehmigung von kleineren Elektrolyseuren wurde insgesamt erleichtert.  

Wir befinden uns in einem historisch einzigartigen und komplexen Transformationsprozess. Es ist richtig und wichtig, in der Regulatorik frühzeitig auch mögliche negative Effekte bestimmter Technologiepfade zu berücksichtigen. Bei den – tatsächlich unerfreulich komplexen – EU-Regelungen für den Strombezug von Elektrolyseuren wären jedoch vereinfachte Regeln für den Start wünschenswert, damit wir überhaupt erstmal eine ausreichende Zahl großskaliger Projekte in die Umsetzung bekommen und Erfahrungen mit deren Rolle im Energiesystem machen können. Gleichzeitig ist die Motivation für die EU-Regelungen, frühzeitig in der Zukunft mögliche Probleme zu vermeiden – zum Beispiel dass ein Elektrolyseur durch den Strommix ungewollt eher klimaschädlich als -schonend ist, was die ganze Transformationsmotivation ins Absurde verkehren würde. Nicht zu vergessen bleibt: Genehmigungsverfahren sind essenziell für die Sicherheit von Wasserstofftechnologien und damit unabdingbar für ihre Akzeptanz. Wir befinden uns in einem hochkomplexen Balance-Akt, für den wir versuchen bestmöglich Lösungen mitzuentwickeln.   

Mit welchen Anliegen wenden sich Unternehmen an die Wasserstoffleitstelle H2.NRW bei NRW.Energy4Climate? Wie können Sie helfen? 

Viele Nachfragen betreffen vor allem unsere Einschätzung, welche Rolle Wasserstoff für die Transformation des eigenen Unternehmens spielen kann und was von den aktuellen Entwicklungen zu halten ist. Ist Wasserstoff für ein geplantes Vorhaben überhaupt der richtige Ansatz? Was gilt es zu beachten? Mit wem muss gesprochen werden? Welche anderen Akteure braucht es an Bord? 
Bei konkreten Projektvorhaben mit Leuchtturmcharakter und Potenzial zur Skalierung und Übertragung, unterstützen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten als Landesgesellschaft bestmöglich bei der Umsetzung. Wir helfen zum Beispiel bei der Identifikation von Fördermöglichkeiten und Optimierung der Projektskizze ebenso wie bei der Vernetzung passender Akteure zur Organisation von Konsortien oder Clustern.  
Nicht zuletzt sehen wir unsere Rolle aber auch darin, noch bestehende Hürden bei der Umsetzung von Wasserstoffprojekten zu beseitigen. Wir versuchen bei der Umsetzung für die Vorreiterunternehmen auftretende Probleme möglichst präzise zu erfassen, um uns dann für politische Lösungen insbesondere natürlich hier in NRW, aber auch im Bund und in der EU einzusetzen. Denn: Wir sind im Hochlauf. Die Erfahrungen, die jetzt erworben werden, müssen unbedingt für die weitere Entwicklung der politischen Wasserstoffstrategien und des notwendigen regulatorischen Rahmens genutzt werden. Unser Ziel ist: eine möglichst bald funktionierende Wasserstoffwirtschaft – und damit dem Ziel Europas erste klimaneutrale Industrieregion zu werden, ein ganzes Stück näher zu kommen.